HT 2010: Am Rande des Imperiums. Der Osten des Reiches um 1150: Berlin-Brandenburg vor seiner Entstehung

HT 2010: Am Rande des Imperiums. Der Osten des Reiches um 1150: Berlin-Brandenburg vor seiner Entstehung

Organisatoren
Michael Lindner, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin; Michael Menzel, Humboldt-Universität zu Berlin; Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
28.09.2010 - 01.10.2010
Url der Konferenzwebsite
Von
Christoph Mielzarek, MGH, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften

Aufgaben und Ziele dieser Sektion formulierte MICHAEL LINDER in einem Prolog: Es gelte, die Geschichte des Raumes zwischen Elbe und Oder im 12. Jahrhundert unter dem Paradigma von Grenze und Grenzüberschreitung zu (be-)schreiben, verlief doch hier, auf dem Gebiet des späteren Brandenburg, nicht nur die politische Außengrenze des römisch-deutschen Imperiums, sondern auch ethnische, sprachliche, religiöse Grenzen sowie der Übergang zwischen einer schriftlichen und einer mündlichen Kultur. In fünf Vorträgen sollte unter anderem folgenden Fragen nachgegangen werden: Welchen Charakter haben (imperiale) Grenzen? Sind sie durchlässig und wenn ja, wofür? Was trennen Grenzen? Wie sieht das Reich seine Nachbarn? Wie sah die imperiale Vorfeldpolitik aus? Wie stellen sich in diesem Zusammenhang etwa militärische Auseinandersetzungen oder Bündnisse dar? Wie verhalten sich Anrainer eines Großreichs? Gleichzeitig bot sich hier die Gelegenheit, die Frage nach dem Nutzen der „turns“ für die gegenwärtige Landesgeschichte zu erörtern.

MICHAEL LINDNER beschrieb, dem Beispiel des Tacitus folgend, ein (fiktives) Gespräch zwischen zwei Slawen, Pribislaw-Heinrich von Brandenburg und dem vermutlich unter polnischem Einfluss stehenden Jaczo/Jaxa von Köpenick. Dieser Dialog bot dem Referenten die Möglichkeit, der Logik von Imperien nachzuspüren, hier im Besonderen dem Umstand, dass sie sich an ihren Grenzen anders verhielten als andere politische Herrschaftsgebilde, etwa Königreiche oder Fürstentümer. Er verwies dabei auf drei Punkte: Erstens bestünden im Vorfeld von Großreichen vielfältig abgestufte politische, wirtschaftliche und kulturelle Beziehungen mit halbdurchlässigen und unscharfen Grenzen. Dadurch sei die Vorstellung einer linearen Grenzziehung wenig sinnvoll. Ob Pribislaw-Heinrichs Brandenburg, das in einem Abhängigkeitsverhältnis zum Imperium stand, nun innerhalb oder außerhalb desselben gelegen habe, sei kaum zu entscheiden. Erst bei Köpenick stünde die Unabhängigkeit vom sacrum Romanum imperium außer Frage. Dennoch sei auch hier die Grenze für kulturellen, wirtschaftlichen und herrschaftstechnischen Austausch durchlässig. Zweitens wurden Nachbarn des Imperiums nicht als gleichberechtigt angesehen. Tribut-, Klientel- oder Lehnsabhängigkeiten seien die Formen „zwischenstaatlicher“ Beziehungen. Drittens gebe es an der Peripherie einen größeren Spielraum für Eigen- und Sonderinteressen der regionalen Kräfte, der Fürsten. Das liege am Integrationsgefälle, das vom Zentrum des Reiches zur Peripherie hin bestehe und Ausdruck in einer größeren politischen Selbständigkeit der Herrschaftsträger am Rande finde, z.B. bei Eroberungen, Bündnissen und Eheverbindungen mit Auswärtigen. Diese Zusammenhänge würden deutlicher, wenn man die Quellen mit neuen Fragen konfrontiere, die sich etwa aus dem spatial turn oder dem cultural turn ergäben.

Nach einer Kritik der immer noch überwiegend dekorativen Verwendung von Münzen und numismatischen Erkenntnissen durch die Mediävistik stellte BERND KLUGE eine Reihe von Münzen vor, die im 12. Jahrhundert zwischen Elbe und Oder geprägt wurden. Hauptaugenmerk legte er dabei auf eine nur auf die numismatischen Befunde gestützte Rekonstruktion der Ereignisse um die Übernahme der Brandenburg durch Albrecht den Bären und dessen Auseinandersetzung mit Jaczo/Jaxa von Köpenick und kontrastierte diese mit der auf schriftlichen Quellen basierenden etablierten Geschichtsauffassung. Demnach deute der Münzbefund darauf hin, dass Jaczo/Jaxa die Brandenburg eher vier Jahre in Besitz hatte als nur wenige Monate, wie die Forschung heute überwiegend annimmt. Von Albrecht dem Bären seien nach den 1150er-Jahren keine Münzen aus der Brandenburg bekannt, was seine praktische Herrschaftsausübung in dieser Burgstadt zweifelhaft erscheinen lasse. Stattdessen fänden sich aus dieser Zeit schon Münzen seines Sohnes Otto. Die anspruchsvollsten Münzen Jaczos/Jaxas wiederum und damit vielleicht auch erst der Höhepunkt seiner Macht stammten aus der Zeit nach seiner Vertreibung aus der Brandenburg und sind keineswegs in der Gegend um Köpenick aufgefunden worden. Eine in diesem Raum und dieser Zeit singuläre Gemeinschaftsprägung von Pribislaw-Heinrich und seiner Frau Petrissa deute auf deren bedeutende Rolle bei der Herrschaft (und Herrschaftsnachfolge) in der Brandenburg hin. Eine Auseinandersetzung der brandenburgischen Landesgeschichte mit diesen Ergebnissen der Numismatik erscheint überaus wünschenswert.

CHRISTOPH MIELZAREK ging auf die Rolle von politischen Grenzen in den Heiratsbeziehungen zwischen sächsischen Markgrafen und Piasten ein. Sie stellten keine Hindernisse dar, sondern böten im Gegenteil Anlass für Eheschließungen zwischen den Geschlechtern. Der Referent exemplifizierte dies an den Ehen der Söhne Albrechts des Bären und Konrads von Wettin mit Töchtern der „jüngeren“ piastischen Linie um die Herzöge Bolesław IV. und Mieszko III. Dass es sich bei dieser um die kaiserfeindliche Piastenlinie handelte, habe keine Rolle gespielt, eher orientierte sich die Heiratspolitik am Rande des Imperiums an den politischen Interessen. Sprachliche und kulturelle Unterschiede seien bei Eheschließungen auf fürstlicher Ebene offensichtlich unerheblich gewesen. Vielmehr diente die Ehe als Absicherung politischer Verabredungen und der Garantie gutnachbarschaftlicher Beziehungen.

MATHIAS LAWO referierte über die wichtigste Quelle zur Inbesitznahme der Brandenburg durch Albrecht den Bären in den 1150er-Jahren, den sogenannten „Tractatus de urbe (oder captione urbis) Brandenburg“ des Heinrich von Antwerpen. Dass die verschiedenen, sämtlich aus dem 19. Jahrhundert stammenden Editionen dieser Quelle fehlerbehaftet sind, liege nicht nur an der Unbedarftheit der Editoren und ihrer zeitbedingten Neigung, in ihrer Meinung nach unverständliche (und daher in ihrem Sinne unmöglich korrekte) Passagen des Textes konjizierend einzugreifen. Das Hauptproblem sei vielmehr, dass mit der Mittellateinischen Philologie als Universitätsdisziplin erst zum Ende des 19. Jahrhunderts die Grundlage für eine angemessene philologische Erschließung lateinischer Texte des Mittelalters geschaffen wurde. Eine philologische Betrachtung des Tractatus habe im Detail durchaus Folgen sowohl für einen künftigen Editor wie auch für die Interpretation des Historikers – etwa beim sogenannten Leitzkauer Kronopfer Pribislaw-Heinrichs, bei der Textdatierung oder beim Datum des Übergangs der Brandenburg von Pribislaw-Heinrich auf Albrecht den Bären.

MICHAEL MENZEL kritisierte die inflationäre Anwendung kulturwissenschaftlicher Theorien auf politisch determinierte Entwicklungen des Mittelalters. Am Beispiel des sogenannten Wendenkreuzzugs von 1147 konnte er zeigen, dass Untersuchungen von raumtheoretischen und von religiös-kulturellen Ansätzen her am Kern des Problems vorbei gehen können und die mit dem Kreuzzug verbundenen Geschehnisse nicht erklären. Die „turns“, die sich hinter den Interpretationen verbergen, seien letztlich ideelle, kulturelle, religiöse, raum- oder herrschaftsorientierte Deskriptionsmodelle, deren sich die mittelalterlichen Akteure oder ihre Chronisten auch schon bedient hätten. Eine gründliche Kritik dieser Tendenzen zeige hingegen, dass der Wendenkreuzzug in erster Line durch die Rivalität Heinrichs des Löwen und Albrechts des Bären geprägt gewesen sei, die ihren Ursprung gleichermaßen in zurückliegenden Auseinandersetzungen um das Herzogtum Sachsen wie in den Expansionsplänen der Fürsten jenseits der Elbe fände. Die Zerstrittenheit des Wendenkreuzzuges sei bisher kaum gesehen worden. Die „turns“ der Einordnung träfen lediglich Aspekte, die in zweiter und dritter Linie eine Rolle spielten, gingen aber an den primären persönlichen Motiven vorbei.

HEINZ-DIETER HEIMANN fasste die Sektion zusammen und verwies dabei insbesondere auf den Anteil der Landesgeschichte bei der Neuausrichtung der Geschichtswissenschaft in den letzten Jahrzehnten. Wenn auch ohne den theoretischen Überbau und damit in gewisser Weise mit einem geringeren Reflexionsgrad habe die Landesgeschichte viele der Entwicklungen, die heute als turns bezeichnet werden, vorweggenommen. In Bezug auf die brandenburgische Landesgeschichte verwies er dabei beispielhaft auf Untersuchungen zur Stadtgeschichte und die Germania-Slavica-Forschung.

Die abschliessenden Diskussion der sehr gut besuchten Sektion hätte von einer stärkeren Beteiligung der mittelalterlichen brandenburgischen Landesgeschichte profitieren können.

Sektionsübersicht:

Michael Lindner (Berlin): Prolog: Über Wenden – De conversionibus et Sclavis

Michael Lindner (Berlin): Grenzgänger: Jaxa von Köpenick und Pribislaw Heinrich von Brandenburg – Streitgespräch am Rande des Reiches über die Vor- und Nachteile, zum Sacrum Romanum Imperium zu gehören

Bernd Kluge (Berlin): Zwangsumtausch? Pribislaw-Heinrich, Jacza und Albrecht der Bär: Die Anfänge der Münzprägung im späteren Berlin-brandenburgischen Raum um 1150

Christoph Mielzarek (Berlin): Grenzenlose Liebe? Askanier, Piasten und Wettiner in grenzüberschreitenden dynastischen Heiratsbeziehungen

Mathias Lawo (Berlin): Kränze mit Eichenlaub: Die Monumenta Germaniae Historica, die Quellen und die Anfänge der brandenburgischen Geschichte

Michael Menzel (Berlin): Grenzwertig! Der Wendenkreuzzug 1147 und seine Motive.

Heinz-Dieter Heimann (Potsdam): Epilog und Diskussionsleitung